Warum der Flüchtlingsdeal Sterben an den EU-Außengrenzen bedeutet

Für Christian Kern und Sebastian Kurz ist der „Flüchtlingsdeal“ zwischen der EU und der Türkei ein voller Erfolg mosaik sprach mit Migrationsforscher Bernd Kasparek über die Funktionsweise des „Flüchtlingsdeal“ mit der Türkei, die Lebensrealität von Schutzsuchenden in den eingerichteten Hotspots an den Grenzen der „Festung Europa“ und Möglichkeiten des Widerstandes gegen das aktuelle Migrationsregime angesichts von Elend und Verzweiflung. 

Benjamin Opratko: Der sogenannte „Flüchtlingsdeal“ zwischen der EU und der Türkei wird von vielen PolitikerInnen, auch Österreichs Bundeskanzler Christian Kern, als „Riesenerfolg“ in der Bewältigung der Flüchtlingskrise gefeiert. Zuletzt war die Rede davon, dass ähnliche Abkommen auch mit Mittelmeerländern in Nordafrika geschlossen werden sollten. Was bedeutet denn dieser Deal tatsächlich vor Ort, an den Außengrenzen Europas?

Bernd Kasparek: Dieser Deal bedeutet, dass sich die Türkei verpflichtet hat einen Schutzstatus für syrische Flüchtlinge zu schaffen. Das heißt das SyrerInnen jetzt tatsächlich eine Art Zugang zum türkischen Asylsystem haben, was vorher nicht der Fall war. Konkret heißt das, dass bei syrischen Flüchtlingen, die in Griechenland ankommen, geprüft wird ob die Person nicht schon einen Schutzstatus in der Türkei hat oder ob es ihr nicht zumutbar wäre, in die Türkei zurückzugehen. Das ist der Hauptmechanismus. Wenn man sich ansieht, was sonst noch alles in dem Deal vereinbart wurde, das funktioniert alles nicht. Die geplante Aufnahme syrischer Flüchtlinge aus der Türkei direkt in europäische Länder, das sogenannte Resettlement, findet eigentlich kaum statt.

Das war aber doch eigentlich ein wichtiger Teil des medial vermittelten Deals, oder?

Ja, der niederländische Außenminister hat letztes Jahr noch gesagt, wir müssen eine halbe Million aufnehmen. Das ist dann ganz schnell sehr viel weniger geworden. Im Deal selbst standen dann 72.000 drin. Aber auch diese 72.000 sind bei weitem noch nicht erreicht, es sind bloß ein paar tausend Flüchtlinge, die auf diesem Weg in Europa angekommen sind. Was ebenso nicht funktioniert ist die sogenannte Rückschiebung von Flüchtlingen aus Griechenland in die Türkei. Das war auch Teil des Deals: Die Türkei hat sich verpflichtet, Flüchtlinge, die keinen Zugang zum griechischen Asylsystem kriegen, zurückzunehmen. Das funktioniert auch nicht. Ganz am Anfang, als der Deal in Kraft getreten ist, rund um den 20. März 2016, gab es ein paar Leute, die freiwillig zurückgekehrt sind. Das hat man dann medial ausgeschlachtet, aber seither ist da fast nichts mehr passiert. Es fahren keine Fähren, es fliegen keine Flugzeuge.

Was passiert denn dann mit den Menschen, die auf den griechischen Inseln vor der türkischen Küste angekommen sind und jetzt eigentlich in die Türkei zurück müssten – was aber praktisch nicht passiert?

Die sitzen auf den Inseln fest. Zum Inkrafttreten des Deals hat man noch alle Leute von den Inseln runtergeholt, die Lager und vor allem die sogenannten Hotspot-Zentren leer gemacht. Seither werden Neuankömmlinge dort festgehalten. Diese Neuankömmlinge stellen alle einen Asylantrag, da wird dann bei einer individuellen Prüfung festgestellt, dass die Türkei zuständig wäre, und dann müsste eigentlich die Rückschiebung erfolgen. Das passiert aber nicht. In Griechenland versucht man, möglichst alle Flüchtlinge, die nach dem Türkei-Deal gekommen sind, auf den Inseln zu halten, während die rund 50.000 Flüchtlinge, die am Festland angekommen sind, ganz normal das griechische Asylsystem durchlaufen sollen. Aber alle, die nach dem 20. März eingereist sind, sollen auf den Inseln bleiben. Das wird mit Polizeikontrollen durchgesetzt.

Weiß man, wieviele Menschen sich auf den Inseln aktuell in etwa aufhalten?

Man kann es nicht ganz genau sagen. Als wir im Juli auf Chios waren, hielten sich dort rund 3.000 Flüchtlinge auf, was die dort verfügbaren Kapazitäten bereits gesprengt hat. Wir waren dann Ende August in Lesbos, wo es so war, dass das Hotspot-Zentrum und das Flüchtlingslager, das es dort gibt, schon voll waren – und das war die Zeit, als die Überfahrten wieder angefangen haben. Da sind also pro Tag zwischen fünfzig bis hundert Personen neu angekommen. Der Hotspot ist doppelt überbelegt, das ist eine ziemlich explosive Situation, die genau dadurch geschaffen wird, dass man die Leute nicht von den Inseln lässt und immer neue Personen ankommen.

Du hast die sogenannten „Hotspots“ jetzt schon mehrmals angesprochen – die werden ja auch oft als Teil der Lösung angepriesen. Was ist denn das besondere an diesen Hotspot-Zentren? Was passiert dort genau sind sie tatsächlich Teil der Lösung?

So wie sie gerade funktionieren sind sie Teil einer repressiven Containment-Strategie, das heißt einer Strategie die darauf ausgelegt ist, Menschen zu internieren. Wobei das Internieren in den Lagern nicht klappt, weil diese architektonisch gar nicht als Internierungslager angelegt waren und auch weil es die dafür notwendigen Polizeikapazitäten nicht gibt. Aber die Inseln selbst fungieren ja sozusagen als Gefängnis, weil man von denen nicht runterkommt. Angelegt war das in den Hotspots zunächst nicht. Noch im Mai 2015, als die EU-Kommission den sogenannten „Hotspot-Approach“ vorgestellt hat, ging es eigentlich vor allem darum, die ankommenden Personen zu registrieren und dann weiterzuleiten. Da ging es nie darum, Personen festzuhalten, sondern darum, den Zugang zum Asylsystem schnell zu gewährleisten, Familienzusammenführungen zu ermöglichen oder den Relocation-Mechanismus zu aktivieren, was damals bedeutete, dass syrische und eritreische Flüchtlinge aus Griechenland oder Italien in andere EU-Länder umverteilt werden können. Das ist ja aktuell umstritten und der Schlüsselmoment in der europäischen Flüchtlingspolitik, an dem sich gerade der Streit entzündet.

Der eigentliche Plan mit den Hotspots war also, Registrierzentren zu schaffen, in denen von jeder Person, die neu ankommt, Fingerabdrücke genommen und in einer Datenbank verzeichnet werden können. Aber mit dem EU-Türkei-Deal ist das, jedenfalls in Griechenland, umgeschlagen. Da hat man gesagt: Super, wir haben ja jetzt diese Registrierzentren, in denen Flüchtlinge ja auch schon für eine kurze Zeit festgehalten werden können – nämlich bis das Registrierungsverfahren durchlaufen ist, laut Gesetz maximal 25 Tage. Da können wir diese Zentren ja gleich als Internierungslager nutzen. Mit dem Abschluss des Abkommens am 20. März ändert sich also der Charakter der Hotspot-Zentren fundamental. Das führte dazu, dass es in den drei großen Hotspot-Zentren, in Lesbos, Chios und Samos, ziemlich schnell zu Aufständen in den Lagern gekommen ist. Deshalb gibt es dort jetzt eine Art Zwischenlösung: Die Lager sind zwar nicht dicht, man kommt aus ihnen raus, aber man kommt von der Insel nicht runter.

Vor einigen Wochen gab es Berichte von Unruhen in dem Lager Moria in Lesbos, ein Hotspot-Zentrum ist in Flammen aufgegangen. Weißt du mehr über die Hintergründe dieser Ereignisse? Sind das Verzweiflungstaten von Menschen, die unter unerträglichen Bedingungen leben müssen? Sind das auch bewusste Akte des Widerstands?

Ich glaube es ist eine Mischung. Die Situation ist erst mal schlecht. Da sind viele Leute die mitgekriegt haben, wie es noch im Winter möglich war, nach Griechenland zu gelangen und innerhalb von ein, zwei Tagen war man in Deutschland. Man selbst hatte das Pech ein paar Wochen oder Monate zu spät aufgebrochen zu sein und jetzt ist man auf dieser kleinen Insel gefangen, wo es überhaupt keine Perspektiven gibt. Diese Hotspot-Zentren sind zwar im Vergleich zu den alten Lagern, die es in Griechenland gab, besser, weil sie zumindest bestimmte Mindeststandards erfüllen, aber die Situation darin ist trotzdem unerträglich: ohne Arbeit, ohne Beschäftigung, ohne Perspektive. Das Lager Moria in Lesbos hat auch das Problem, dass da immer wieder das Wasser abgestellt wird. So ein Lager für 3000 Leute zieht natürlich unglaublich viel Wasser, das macht auch etwas mit den auf der Insel verfügbaren Ressourcen. Es scheint, dass dieser Aufstand einerseits durch Gerüchte ausgelöst wurde, dass wieder Massenrückführungen in die Türkei bevorstehen. Andererseits gab es an dem Tag auch in dem Dorf neben dem Hotspot eine Demonstration von griechischen Neo-Nazis von der „Goldenen Morgenröte, die mittlerweile auch gegen diese Lager Stimmung macht. Das muss zu dieser Situation geführt haben in der es dann explodiert ist. Ich würde es nicht nur Verzweiflung nennen, denn es ist auch ein Versuch, sich aus dieser Situation zu befreien.

Mehrere europäische PolitikerInnen, darunter auch Christian Kern, haben vorgeschlagen, ein ähnliches Abkommen wie den Türkei-Deal auch mit Ägypten abzuschließen. Welche Konsequenzen hätten solche weiteren Abkommen aus deiner Sicht?

Die europäische Politik sagt ja: Der Deal mit der Türkei ist gut, er funktioniert. Damit ist einfach nur gemeint, dass der türkische Staat die Überfahrten von Flüchtlingen von der türkischen Küste an die griechische Küste unterbindet. Das ist, was funktioniert. Und das war schon immer das Begehren der europäischen Migrationspolitik, etwas was wir als „Externalisierung“ bezeichnen. Das ist das, was Italien mit Libyen versucht hat, das ist die Politik Spaniens gegenüber den westafrikanischen Staaten. Ziel ist, dass Flüchtlingen und MigrantInnen gar nicht erst an die europäische Außengrenze gelangen. Es hat sich aber gezeigt, dass das immer eine sehr labile Konstellation ist. Schon die Verhandlungen zwischen Libyen und Italien waren damals unglaublich schwierig, haben sich lange hingezogen und letztlich hat das Abkommen auch nicht gehalten. Als der libysche Bürgerkrieg ausbricht sagt Gaddafi dann ja: Ich sitze hier in der Machtposition! Europa ist so darauf angewiesen, dass ich die Migration aufhalte – also werde ich in dem Moment, wo Europa sich gegen mich wendet, die Migration zur Waffe machen und erst recht dafür sorgen, dass möglichst viele Menschen nach Europa kommen. In so einer Situation ist man mit der Türkei ja eigentlich auch gerade. Der Türkei geht es vor allem um die Visafreiheit für türkische StaatsbügerInnen. Das wird von der Türkei schon seit Jahren gefordert, es gibt aber keine politische Mehrheit dafür in Europa. Die meisten europäischen Regierungen sind dagegen und es ist wohl auch gar keine realistische Option. Man hat es der Türkei aber trotzdem versprochen, weil man wusste, dass dieser Staat, der an einer der zentralen Migrations- und Fluchtrouten liegt, gerade so eine starke Verhandlungsmacht hat. Deswegen sieht man auch, dass die EU sich im Moment so schwer tut, die Entwicklungen in der Türkei zu kritisieren: Der schleichende Bürgerkrieg im Südosten, die Verfolgung von JournalistInnen und AkademikerInnen – man kriegt das ja alles mit. Gäbe es so ein Abkommen mit Ägypten, würde das dort sicherlich ähnlich passieren.

Bernd Kasparek ist Mathematiker und Anthro­pologe, aktuell forscht er zu Veränderungen des europäischen Migrations- und Grenzregimes. Außerdem ist er aktiv im kritnet (“Netzwerk kritische Migrations- und Grenzregimeforschung”) und im Vorstand der Forschungsassoziation bordermonitoring.eu.

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