Das Ende des Kapitalismus beginnt bei der Ernährung

Viele Linke verbinden das Thema Ernährung mit Öko-Hipstern und Lifestyle-Aktivismus. Die Bewegung für Ernährungssouveränität steht jedoch an vorderster Front im Kampf gegen den Kapitalismus, meint Carla Weinzierl.

„Krise“ ist mittlerweile ein zu kleines Wort, um die Lage des Planeten zu beschreiben. Wir befinden uns im Zeitalter des großen Kollapses: Der Klimawandel ist nicht mehr zurückdrehbar, immer mehr Tier- und Pflanzenarten sterben aus. Die Ursachen dafür liegen in unserem Wirtschaftssystem. Wenn wir unsere Lebensgrundlagen retten wollen, werden wir den Kapitalismus überwinden müssen. Um zu verstehen, wie das gelingen könnte, hilft ein Blick zurück auf seine Anfänge.

Ernährung, der Schlüssel zum Wirtschaftssystem

Eine Grundbedingung für die Herausbildung des heutigen Wirtschaftssystems war die Einhegung landwirtschaftlicher Flächen. Wenn eine Agrarreform den Kapitalismus gebar, braucht es wohl auch eine Agrarreform, um ihn zu überwinden. Denn die Art und Weise, wie wir uns ernähren, ist von fundamentaler Bedeutung für unsere Wirtschaftsweise.

Eine Vielzahl großer politischer Themen hängt direkt mit dem Ernährungssystem zusammen: Handel und Arbeitsrechte, Klima und Umwelt, Energie und Gesundheit, soziale und territoriale Fragen. Agrarpolitik geht uns alle an, nicht nur Bäuerinnen und Bauern.

Landwirtschaft für Profit statt Ernährung

Mit der Gründung der Welthandelsorganisation 1995 stieg auch in der Landwirtschaft der Druck Richtung Marktöffnung und Liberalisierung. Seither ersetzt die industrialisierte Landwirtschaft zunehmend die kleinbäuerliche. Oberstes Ziel ist nicht mehr die Ernährung von Menschen, sondern der Profit von Konzernen.

Die Folgen: Dumping-Importe von Nahrungsmitteln zerstören im globalen Süden lokale Produktionsstrukturen und damit Lebensgrundlagen. Gesellschaften, die sich seit Generationen weitgehend selbst ernährten, werden abhängig vom Weltmarkt und dessen schwankenden Preisen. Hunger ist heute nicht mehr Folge zu geringer Produktion, sondern falscher Verteilung.

Bewegung von 200 Millionen Menschen

Im Widerstand gegen diese Entrechtung ist La Via Campesina (Der kleinbäuerliche Weg) entstanden. Mit Mitgliedsorganisationen in 73 Ländern und rund 200 Millionen Bauern und Bäuerinnen ist sie eine der größten sozialen Bewegungen der Welt. La Via Campesina fordert mit dem Konzept der Ernährungssouveränität einen radikalen Umbruch.

Ernährungssouveränität setzt am Menschenrecht auf Nahrung an, aber im ganzheitlichen Sinn: Es geht um den Zugang aller Menschen zu jeder Zeit zu ausreichendem, gesundem, schmackhaftem, kulturell eingebettetem und an klimatische und Bodenbedingungen angepasstem Essen, das in sozial gerechter Weise produziert wird.

Das ist im Rahmen des neoliberalen Ernährungssystems nicht denkbar. Daher stellt die Bewegung für Ernährungssouveränität Machtfragen ins Zentrum: Die Menschen sollen das Recht haben, ihre Ernährung selbst zu gestalten.

Lebensgrundlagen gehören allen

Ernährungssouveränität heißt also, die Kontrolle über die Produktion zurück in die Hände der Produzierenden zu holen. Das macht sie zum antikapitalistischen Projekt. Ihre AkteurInnen sind vor allem Bäuerinnen und Bauern sowie Landlose des globalen Südens, aber auch der Peripherie innerhalb Europas. Sie spüren die Folgen der Landnahmen durch InvestorInnen aus dem globalen Norden am stärksten. Dagegen setzen sie sich zu Wehr.

Sie kämpfen darum, dass Lebensgrundlagen wie Saatgut, Wasser und Land öffentliche Güter bleiben oder wieder werden, statt im Privatbesitz einzelner zu sein. Damit stellen sie eines der Grundprinzipien des Kapitalismus, die Akkumulation durch Enteignung, in Frage – und treffen auf massive Repression.

Kooperation statt Wettbewerb

Auch in Österreich gibt es Orte der Ernährungssouveränität: Bauernhöfe, auf denen ProduzentInnen und KonsumentInnen die Risiken wie Ernteausfälle gemeinsam tragen, folgen dem Prinzip der Community Supported Agriculture (CSA). In Foodcoops genannten Lebensmittel-Kooperativen beziehen Menschen ihre Nahrungsmittel direkt von den ProduzentInnen und umgehen so die Agrarindustrie und Supermärkte. Diese Initiativen setzen darauf, unsere Ernährung nach dem Prinzip der Kooperation statt des Wettbewerbs zu organisieren.

Gegen Extraktivismus und Produktivismus

Doch unsere heutige Wirtschafts- und Lebensweise beruht nicht nur auf dem Kapitalismus. Zu ihren negativen Grundpfeilern zählen auch Extraktivismus, also die übermäßige Ausbeutung natürlicher Ressourcen, und Produktivismus, also die Fixierung auf Wirtschaftswachstum.

Die Anbaumethoden der Ernährungssouveränität treten ihnen entgegen, indem sie die Grenzen von Natur und Böden respektieren. Statt auf schädliche chemische Dünger setzen sie beispielsweise auf Kreislaufwirtschaft. Kleinbäuerliche Strukturen arbeiten mit unserer Um- und Mitwelt, statt sie auszubeuten.

Imperiale Lebensweise überwinden

Statt auf Wachstum und Profite zielt Ernährungssouveränität darauf ab, die Bedürfnisse von Mensch, Tier und Natur, zu befriedigen, und zwar weltweit. Ernährungssouveränität überwindet so auch das menschenzentrierte und eurozentrierte Weltbild. Entgegen der Technokratie des Agrarbusiness setzt sie darauf, das über Generationen angesammelte Wissen von Kleinbäuerinnen und –bauern zu bewahren und zu verbreiten. Damit trägt Ernährungssouveränität auch dazu bei, den „Neokolonialismus“ und die „imperiale Lebensweise“ zu überwinden, in der Menschen hierzulande auf Kosten von Arbeitskraft und Böden im globalen Süden leben.

Ressourcen sollen in erster Linie der Ernährung der Menschen vor Ort dienen, statt für Agrotreibstoffe und Futtermittel für den übermäßigen Fleischkonsum im Norden verwendet zu werden. Auch Handel ist im Konzept der Ernährungssouveränität vorgesehen, soll aber dem Prinzip der Subsidiarität statt der Profitmaximierung folgen: nur so viel handeln, wie nötig ist, um alle gut zu ernähren.

Schließlich stellt sich Ernährungssouveränität auch explizit dem Patriarchat entgegen. Frauen produzieren bis zu 80 Prozent der Lebensmittel im globalen Süden und dominieren die Bewegung. Damit stellt sie auch das traditionelle Verständnis von Arbeit und ihrer Verteilung zwischen Männern und Frauen in Frage.

Mehr als nur bürgerliche Kreise

Um all die negativen –ismen zu überwinden, braucht es breite gesellschaftliche Allianzen. Das hat La Via Campesina früh erkannt. In der Nyéléni-Bewegung, die nach einer legendären malischen Bäuerin und Widerstandskämpferin benannt ist, schließt sie sich daher mit Indigenen- und Frauenorganisationen, mit organisierten KonsumentInnen und städtischen Bewegungen, mit Gewerkschaften, mit Menschenrechts-NGOs, Akteuren im Bereich Umwelt- und Klimagerechtigkeit und mit Solidaritäts- und Alter-Globalisierungsbewegungen zusammen.

Damit schafft die Bewegung den Ausbruch aus privilegierten, bürgerlichen Kreisen und bildet breitere Allianzen. Quoten sorgen dafür, dass in den Foren marginalisierte Gruppen aktiv eine Stimme bekommen.

Lokales Handeln, globale Vision

Was die Bewegung außerdem besonders macht, ist die Kombination von so unterschiedlichen Aktivitäten wie Widerstand, Transformation und Demokratisierung sowie dem Aufbau von Alternativen. Sie verbindet lokales Handeln, das an die Lebenswelt von Menschen vor Ort ansetzt, mit einer globalen Vision der der Solidarität. Von all dem können andere linke Gruppierungen viel lernen.

Herbsttreffen in Graz am 26.-29. Oktober

Die österreichische Nyéléni-Bewegung trifft sich zweimal im Jahr, um sich zu vernetzen, Kampagnen und Aktionen zu planen und gemeinsame Erfolge zu feiern. Das kommende Treffen zwischen 26. und 29. Oktober in Graz steht unter dem Motto „Gutes Essen für Alle“. Sei dabei!

Mehr Infos zum Treffen findest du hier.

Carla Weinzierl ist politische Ökonomin an der WU Wien. Sie ist Attac-Vorstandsmitglied und Aktivistin in der NyéléniBewegung.

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