Warum Chinas Börsen krachen – und wer dafür bezahlt

In weniger als einem Monat brach der chinesische Aktienmarkt um 30 Prozent ein. Aktienwerte von mehr als 3 Billionen US-Dollar wurden seit dem Höchststand vom 12. Juni vernichtet. Der Shanghai Composite Index, der drittgrößte Aktienmarkt der Welt, fiel von knapp 5.200 Punkten auf einen Tiefststand von 3.500 Punkten. Mehr als 1.400 Aktien, d.h. die Hälfte aller börsennotierten Unternehmen, wurden vom Handel ausgesetzt.

Um das ungeheure Ausmaß der Zerstörung zu verdeutlichen: Der sich durch den Crash innerhalb eines Monats in Luft aufgelöste Reichtum entspricht etwa 20 Prozent des BIP der USA im Jahr 2014 und der knapp zehnfachen Größe der Gesamtschuldenlast Griechenlands.

Dabei kann niemand behaupten, dies nicht kommen gesehen zu haben. Die Überbewertung von Aktien war allgemein bekannt – einige AnalystInnen schätzen diese auf mehr als 20 Prozent, während der Mainstream der Wirtschaftspresse bereits seit vielen Monaten von einer Blase schrieb. Unklarheit bestand einzig hinsichtlich des exakten Zeitpunkts des Einbruchs.

Nachdem diese Vorzeichen jedoch weitgehend ignoriert worden waren, führte die mit dem Crash einsetzende Panik zu hastig getroffenen Maßnahmen seitens des chinesischen Parteistaates. Neue Börsennotierungen wurden gestoppt und Kurzgeschäfte untersagt. Die größten staatlichen Unternehmen und sogar staatliche Pensionsfonds wurden angeordnet, keine Anteile zu veräußern. Die 21 größten Wertpapierdienstleistungsunternehmen des Landes versicherten, gemeinsam Aktien im Wert von mindestens 19 Milliarden US-Dollar anzukaufen. Und auch die Zentralbank wurde angewiesen, Brokerhäusern und Investoren über den staatlichen Kreditgeber China Securities Finance Corp Geld für den Kauf von Anteilen im Wert von 365 Milliarden US-Dollar zu leihen.

Widersprüche in der Ökonomie

Chinas Börsencrash zeugt von der zunehmenden Instabilität und den zugrundeliegenden Widersprüchen der (staats-)kapitalistischen Ökonomie des Landes. Das gigantische, 586 Milliarden US-Dollar schwere Stimulusprogramm, welches der Parteistaat in Reaktion auf die Auswirkungen der Finanzkrise seit 2008 implementierte, hat zahlreiche Probleme nur verschoben ohne sie zu lösen und selbst ein vergiftetes Vermächtnis hinterlassen. Die expansive Geld- und Fiskalpolitik der Regierung stützte die Wirtschaft, heizte jedoch gleichzeitig eine Reihe von Blasen an.

Die chinesische Zentralregierung war nur wenige Monate vor dem gegenwärtigen Börsencrash damit beschäftigt, Lösungen für die wachsende Verschuldung lokaler Regierungen zu suchen. Zudem haben Immobilienblasen und industrielle Überkapazitäten Investitionen in diese Sektoren weniger profitabel gemacht. Der Anteil der für das Wachstum Chinas maßgeblichen Anlageinvestitionen am BIP steht in keinem ausgeglichenen Verhältnis zum geringen Konsumniveau, dessen Zunahme von der Regierung als notwendig für eine „Ausbalancierung“ der Wirtschaft erachtet wird.

Die Konsumschwäche ist ein Ausdruck davon, dass der Anteil an Kapitaleinkünften gegenüber den Arbeitseinkommen aufgrund der neoliberalen Reformpolitik Chinas gestiegen ist. Es ist daher nicht verwunderlich, dass der Aktienmarkt mit billigem Geld auf der Suche nach Anlagerenditen überflutet wurde.

Auswirkungen des Crashs

Es gibt Befürchtungen, dass die Börsencrashs Auswirkungen auf die Realwirtschaft haben könntet. Dabei besteht jedoch die Gefahr, die möglichen Effekte überzubewerten, und ein Vergleich mit dem Crash von 1929, wie ihn einige Medien in den vergangenen Tagen anstellten, ist in jedem Fall irrefühend.

Denn trotz seiner zerstörerischen Kraft dürfte der Crash selbst nicht so schwerwiegend sein wie es sich anhört. Die Aktienwerte im Shanghai Composite Index sind zurück auf dem Niveau von vergangenem März und weiterhin um 80 Prozent höher als vor einem Jahr. Es handelt sich daher noch nicht um einen totalen Zusammenbruch. Verglichen mit anderen Volkswirtschaften spielt der Aktienmarkt in der chinesischen Ökonomie darüber hinaus eine relativ geringe Rolle.

Wer zahlt drauf?

Beunruhigt ist die chinesische Regierung jedoch vermutlich aufgrund der Millionen an KleinanlegerInnen – gewöhnliche Menschen, die ihre Einkommen und Ersparnisse in Aktien investierten und bisweilen auch Kredite aufnahmen, um Wertpapiere zu kaufen. Viele eröffneten ihre Konten in den letzten paar Jahren. Bezeichnenderweise ist die Zahl der mittlerweile 90 Millionen EinzelinvestorInnen bereits höher als jene der 88 Millionen Mitglieder der Kommunistischen Partei.

Zur genauen Zusammensetzung der KleinanlegerInnen existieren nur vage Informationen. Die beschränkt verfügbaren Umfragestatistiken deuten darauf hin, dass die Mehrheit der KleinanlegerInnen, die im letzten Jahr in den Aktienmarkt einstiegen, entweder junge Menschen in ihren 20ern und 30ern und zu einem geringeren Teil in ihren 30ern und 40ern – d.h. etwa BerufsanfängerInnen mit mittleren Einkommen und junge migrantische ArbeiterInnen mit mittleren bis niedrigen Einkommen – oder ältere Menschen in ihren 50ern und 60ern waren, die ihre Ersparnisse für den Ruhestand investierten.

Viele wurden vermutlich zu Anlagen auf dem Aktienmarkt veranlasst, da ihre Löhne nach der Anpassung an die hohen städtischen Lebenskosten nur langsam stiegen. Ökonomische Ungleichheiten sind wahrscheinlich ein weiterer Antriebsfaktor, da Menschen mit niedrigeren Einkommen versuchen, mittels der spärlich verfügbaren Mittel wirtschaftlich aufzuschließen.

In diesem Zusammenhang betrachtet die chinesische Regierung den Crash zu Recht nicht nur als ein ökonomisches Problem, sondern vielmehr als eine politische, die Legitimität des Staates berührende Angelegenheit. Die vorwiegend aus der Mittelklasse kommenden KleinanlegerInnen gehören zu den wichtigsten gesellschaftlichen Stützen der Regierung. Mit dem Crash wird ihre Loyalität auf die Probe gestellt.

…und es ist noch nicht vorbei

Die Kurseinbrüche sind noch nicht überwunden, aber eine leichte Erholung ist wahrzunehmen. Innerhalb zweier Tage ist der Shanghai Composite Index wieder um 10,6 Prozent gestiegen, die größte Zunahme in einem vergleichbaren Zeitraum seit 2008. Doch auch wenn der Crash vorübergehend gestoppt wird, ist anzunehmen, dass die staatlichen Finanz- und Vertrauenspritzen nicht auf lange Zeit wirksam bleiben und ein unausweichlicher weiterer Einbruch noch um ein Vielfaches zerstörerischer sein wird. Die zugrundeliegenden ökonomischen Probleme und Widersprüche sind nicht verschwunden, sondern sie wurden nur vorübergehend von einer Blase zur nächsten verschoben, um das Wirtschaftswachstum aufrechtzuerhalten.

Mit Blick auf die politische Ebene ist festzuhalten, dass die betroffenen KleinanlegerInnen ihren Unmut zwar kaum mit Protesten auf der Straße artikulieren werden, doch der akkumulierte Vertrauensverlust in die Regierungsfähigkeit des Parteistaates könnte dessen Legitimität auf längere Sicht untergraben. Unbestritten ist, dass der Parteistaat die Unterstützung der Mittelklasse angesichts der sich zuspitzenden Proteste von ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen auf keinen Fall verlieren möchte.

Im Gefolge des Börsencrashs werden wir vermutlich Rufe nach einer weiteren Liberalisierung des Finanzsektors, nach einer Ausweitung der Rolle des Marktes sowie nach einer Ankurbelung des Binnenkonsums hören. Die Regierung hat Reformvorhaben zur Restrukturierung der Wirtschaft angekündigt, bisher jedoch kaum substantielle Maßnahmen getroffen. Die ausgeweitete Anti-Korruptionskampagne zielt nicht nur auf eine Wiederherstellung ihrer Legitimität, sondern sie wird weithin auch als Mittel zur Machtkonsolidierung sowie als Weichenstellung für weitere marktwirtschaftliche Reformen angesehen.

Die Linke muss sich diesen neoliberalen Maßnahmen widersetzen. Die Ausweitung marktwirtschaftlicher Reformen wird zu größerer Instabilität und zunehmender Ungleichheit führen. Es mag sinnvoll erscheinen, einer Ankurbelung des Konsums als langfristige Strategie zuzustimmen, doch ohne eine gerechte Verteilung von Einkommen und Reichtum und entschiedene Schritte gegen die Zerstörung der Umwelt in China bleibt dies eine neoliberale Strategie.

Kevin Lin ist PhD-Student in Australien und forscht zu Arbeitspolitik in China.

Überarbeitet und übersetzt von Daniel Fuchs.

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