Chapel Hill: Muslimische Leben zählen!

Seit gestern geht der Hashtag #MuslimLivesMatter auf Twitter um die Welt, um zu zeigen: Die Leben von MuslimInnen zählen! Das Problem ist nur: Sie scheinen es nicht für alle zu tun. Jedenfalls nicht im gleichen Maß wie die Leben jener, die nicht zu „den Anderen“ gemacht werden. Nicht wie für jene, für die ein unausgesprochenes #WhiteLivesMatter ohnehin immer gilt. Zu dieser erschütternden Erkenntnis muss gelangen, wer die Reaktionen auf die Morde in Chapel Hill verfolgt. Ein Kommentar von Ines Mahmoud und Benjamin Opratko.

Man stelle sich vor: Ein muslimischer Mann stürmt das Haus einer jungen, weißen Familie in einer US-amerikanischen Universitätsstadt und erschießt alle drei dort wohnenden Menschen. Die Ermordeten waren in der Nachbarschaft als AtheistInnen bekannt; auf der Facebook-Seite des Mörders finden sich zahlreiche Einträge, die gegen „Gottlose“ und „Ungläubige“ wettern, sowie ein Foto der Waffe, mit der er die drei jungen Erwachsenen per Kopfschuss hinrichten sollte.

Gestern erschoss Craig Hicks in Chapel Hill, North Carolina, den 23-jährige Deah Shaddy Barakat, seine Frau Yusor Mohammad Abu-Salha, 21, und deren Schwester Razan Mohammad Abu-Salha, 19. Auf seiner Facebook-Seite präsentiert sich Hicks als radikaler „Anti-Theist“, als Lieblingsbuch gibt er die Bibel der Neuen Atheisten, Richard Dawkins’ „Gotteswahn“, an. Wir wissen zu diesem Zeitpunkt nicht, was der genaue Hintergrund der Morde ist. Aber wir haben eine recht genaue Ahnung, was passieren würde, wäre die Geschichte andersrum verlaufen. Hätte es keinen weißen, atheistischen Täter, sondern weiße Opfer gegeben. Hätte es einen als muslimisch beschriebenen Täter und keine MuslimInnen als Opfer gegeben.

Mord oder Terror?

Wir würden nicht von dreifachem „Mord“ oder einem möglichen „Hassverbrechen“ lesen, sondern von einem terroristischen Anschlag. Es wäre nicht von einem „geistig verwirrten Einzelgänger“ die Rede, sondern von einer „radikal-islamistisch“ motivierten Tat. Die Polizei würde nicht nach dem konkreten Auslöser für die Tat suchen und darüber spekulieren, dass ein Parkplatzstreit dahinter stecken könnte, sondern fieberhaft mögliche Verbindungen zu „islamistischen Terrorzellen“ ermitteln. Man würde von einem ideologischen, gar religiösen Kontext ausgehen und nicht von der Tat eines einzelnen Mannes, die in keinem ideologischen Zusammenhang stattfindet. Vermutlich würde sie den Täter bei Aufgriff töten.

Keine Distanzierung

Die Täter, doch vor allem die Opfer, wären in jeder Zeitung, in jeder Nachrichtensendung, auf jeder News-Seite. Es dauerte Stunden nach Bekanntwerden des Attentats in Chapel Hill, bis die ersten US-amerikanischen Medien darüber berichteten. Auf den großen österreichischen News-Seiten orf.at und derstandard.at war es auch 14 Stunden nach dem Mord überhaupt keine Meldung wert; die deutsche „Zeit“ veröffentlichte drei Zeilen, in denen zunächst nicht einmal erwähnt wurde, dass es sich bei den Opfern um MuslimInnen handelte. Keine TV-Berichte auf CNN, keine Breaking News, kein „Je suis…“, kein „I am Deah, Yuzor, Razan“ auf allen Kanälen. Vor allem aber: Niemand distanziert sich. Niemand kommt auch nur auf die Idee, dass nicht-religiöse Menschen in aller Welt öffentlich zu dieser Tat Bezug nehmen sollten. Kein Leitartikel fordert, dass die „atheistische Community“ überall zwischen Seattle und Wladiwostok das offensichtliche Gewaltproblem in ihrer Kultur angehen sollte. Richard Dawkins verlautbarte auf Twitter empört, es sei doch selbstverständlich dass jeder Mensch die Morde in Chapel Hill verabscheue. Derselbe Richard Dawkins, der vor genau einem Monat eine „massive, lautstarke Verurteilung“ der Attentate in Paris von MuslimInnen in aller Welt eingefordert hatte.

Empörung bleibt aus

Die Attacken auf Charlie Hebdo haben im vergangenen Monat nicht nur die Titelseiten weltweit dominiert, sondern auch zu internationalen Solidarisierungen mit den Opfern der Attentate geführt. In Wien erreichte die Mobilisierung zu einer Mahnwache am selben Tag der Attacke so viele Zusagen wie kaum eine der vielen Demonstrationen des Refugee Protest Camps in den vergangenen zwei Jahren. (Demonstrationen, die sich unter anderem gegen die europäische Grenzpolitik richten. Im Jahr 2014 starben mindestens 3420 Menschen beim Versuch, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen.) Viele MuslimInnen in ganz Österreich nahmen an Veranstaltungen für die Opfer teil, eine Delegation der Muslimischen Jugend Österreichs reiste sogar nach Paris um ihre Abscheu gegenüber Attentätern, mit denen sie nichts verband, auszudrücken. Staatsoberhäupter flogen ein, um im Marsch der Heuchler Hand in Hand für die Meinungsfreiheit zu posieren und Ideen für die Aufstockung ihrer militärischen sowie polizeilichen Strukturen mitzunehmen.

Gestern blieben sie jedoch weitgehend aus, die Empörungsrufe. Die Geiselnahme von Sydney und die Attentate in Paris haben uns gezeigt, wie rasch und umfangreich Medienberichterstattung zu derartigen Terrorattacken aussehen kann. Es bleibt abzuwarten ob hierzulande das „Profil“ in seiner nächsten Ausgabe mit „Was den Neuen Atheismus gefaehrlich macht“ titeln wird, ob die Grünen eine neue Veranstaltung zu „Der ‚Anti-Theist’ – mitten unter uns” ankündigen oder Sebastian Kurz bei atheistischen Radikalisierungstendenzen zum Anruf in der Deradikalisierungshotline aufruft. Wir vermuten: Eher nicht. Es gab schon zu viele „geistig verwirrte Einzeltäter“, zu viele TerroristInnen, die nie als „weiß“ benannt wurden.

Mit zweierlei Maß

Was uns die Reaktionen auf Chapel Hill zeigen, ist wie tief die Wurzeln des Rassismus in unseren Gesellschaften liegen. Wir sehen, wie Machtstrukturen funktionieren, die bewusst oder unbewusst unterschiedliche Grade des Menschseins behaupten: Nicht alle Menschen sind gleich, noch im Tod gelten manche mehr als andere. Auch in Österreich haben wir diese Ideologie der Ungleichheit verinnerlicht. Auch in Österreich können und müssen wir dagegen angehen. Wir sollten aufhören, mit zweierlei Maß zu messen. Und wir sollten jenen zuhören, die sich dagegen wehren, dass sie zu Menschen zweiter Klasse gemacht werden. Denn: #AllLivesMatter: Alle Leben zählen! Nur zählen hier eben manche ein wenig mehr, manche weniger.

Ines Mahmoud studiert Human Rights in London und ist aktiv beim Netzwerk Muslimische Zivilgesellschaft.

Benjamin Opratko ist Politikwissenschaftler und Redakteur von mosaik.

Das Netzwerk Muslimische Zivilgesellschaft ruft zu einer Mahnwache für die Opfer des Anschlags am Freitag um 18:30 Uhr am Graben auf.

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