Brexit: Ein Schlag gegen das Establishment – und trotzdem kein Grund zur Freude

Was gestern noch undenkbar schien ist heute Realität: Großbritannien verlässt die Europäische Union. Die Entscheidung ist ein Schlag ins Gesicht für das britische und europäische Establishment – und trotzdem kein Grund zur Freude für die Linke, meint der britische Autor und Aktivist Richard Seymour.

Den RassistInnen in Großbritannien ist es gelungen, eine breit geteilte Anti-Establishment-Haltung – die ihre Ursprünge in Angriffen auf die ArbeiterInnenklasse, im Niedergang ländlicher Regionen, in den verheerenden Folgen der Deindustrialisierung, den Ängsten älterer Generationen usw. haben – entlang von bigotten, national-chauvinistischen Linien zu artikulieren. Dieses Ergebnis kann nicht auf Rassismus und Nationalismus reduziert werden – aber das war nun einmal die wichtigste Form in der die Kampagne für den Austritt organisiert war, wie sie Leute gewonnen und orientiert hat, und es ist die Form in der das Ergebnis wahrgenommen wird.

Dass dies so kurz nach dem faschistischen Mord an einer mitte-links und pro-Immigration positionierten Politikerin überhaupt möglich war, ist verblüffend. Es sagt etwas über Böswilligkeit des Chauvinismus aus, den wir gerade erleben. Es sagt etwas darüber aus wie tief der Verlust empfunden wird, der durch eine wieder behauptete „Britishness“ kompensiert werden soll.

Erhobene Zeigefinger

In sozialen Medien gibt es nun viele, die mit erhobene Zeigefinger den Brexit-WählerInnen vorwerfen, dass sie für ihre ökonomische Selbstzerstörung gestimmt haben. Immobilienpreise werden fallen, Ersparnisse schrumpfen, das Britische Pfund geschwächt und Arbeitsplätze verschwinden. Nun, das ist alles richtig. Aber: Nicht alle profitieren vom völlig verrückten Immobilienmarkt. Nicht alle haben Ersparnisse. Nicht alle profitieren, so wie die Londoner Finanzindustrie, von einem starken Britischen Pfund. Die verarbeitende Industrie hat darunter sogar gelitten. In weiten Teilen des Landes wurden schon seit Jahren Unmengen an Arbeitsplätzen vernichtet.

„Die Wirtschaft“ ist kein neutrales Terrain, kein Ort der von jedem Menschen auf die gleiche Weise wahrgenommen wird. Und Teile des Ergebnisses – Stimmen für den Austritt, die aus Kerngebieten der sozialdemokratischen Labour Partei kommen, die zumindest auf den ersten Blick nicht stark rassistisch geprägt sind – geben einen Hinweis darauf. Viele Menschen haben also gegen eine Wirtschaft gestimmt, die ihnen nichts zu bieten hat. (Was nicht bedeutet, dass die praktische Alternative nicht schlechter sein wird. Sie wird wahrscheinlich sogar um ein vielfaches schlimmer.)

Corbyn hat getan was er konnte

Der Vorsitzende der Labour Party, Jeremy Corbyn, hat in diesem Szenario das bestmögliche getan. Er hat die Kampagne für einen Verbleib in der EU kritisch unterstützt und sie mit bestimmten Bedungungen und Forderungen verknüpft.

Hätte er in das Hurra-Gejubel für die EU mit eingestimmt, hätte er seine Unterstützung nicht mit ernsthafter Kritik verbunden, dann würde Labour nun dunklen Zeiten entgegensehen in den Regionen Mittel- und Nordenglands, in denen der Brexit gewonnen wurde. Indem er zumindest in Worten kritisch geblieben ist und vor allem Distanz zu den konservativen Tories gehalten hat, hat er wahrscheinlich ein „schottisches Szenario“ [bei den letzten Wahlen verlor Labour in Schottland all ihre Parlamentssitze an die Scottish National Party (SNP), Anm.] für seine Partei in diesen Gegenden verhindert.

Rechte Kulturkämpfe

Aber Corbyn war auch nicht der dynamische Faktor in diesem Referendum. Das waren die RassistInnen. Nigel Farage, Chef der rechtspopulistischen UKIP, hat schon einen Ausblick auf die nun folgenden Kulturkämpfe gegen. Er hat seinen Sieg mit einer Aussage gefeiert, die nur als kalkulierte Provokation verstanden werden kann: „Wir haben es geschafft, ohne eine einzige Kugel abzufeuern.“

Richard Seymour ist Autor, Journalist und Aktivist in London. Zuletzt hat er ein Buch über Jeremy Corbyn veröffentlicht.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf seinem Blog Lenin’s Tomb und wurde von Benjamin Opratko aus dem Englischen übersetzt.

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