24-Stunden-Pflege: Von Lohndumping und Ausbeutung

Seit zehn Jahren ist es legal, osteuropäische Frauen für Pflegearbeit nach Österreich zu holen. Ein fragwürdiges Jubiläum. Für rund 800 Euro arbeiten sie zwei Wochen lang durchgehend. Zwischen Ausbeutung und Sinnhaftigkeit: Ist die Legalisierung gelungen?

Zehn Jahre ist es her, dass die 24-Stunden-Betreuung in Österreich legalisiert wurde. Rund um den Nationalratswahlkampf 2006 kochte das Thema hoch und wurde gekrönt von einem Skandal. Selbst die Schwiegermutter des damaligen ÖVP-Kanzlers Schüssel wurde angeblich von einer slowakischen Betreuerin illegal gepflegt. 2007 fand die Politik dann einen fragwürdigen rechtlichen Rahmen für das Phänomen. Heute können wir uns Pflege in Österreich kaum noch ohne die osteuropäischen Personenbetreuerinnen, die im Zwei-Wochen-Rhythmus herpendeln, vorstellen. Der politische Tenor scheint zu lauten: „Nicht ideal, aber der einzig leistbare Ausweg.“ Kann man zum zehnjährigen Jubiläum die Legalisierung also als Erfolg einstufen?

Ziel erreicht: Legale Arbeit bei gleichbleibendem Preis

„Rein formal hat es funktioniert einen Bereich zu reglementieren, der vorher nur als Schattenwirtschaft existiert hat“, so August Österle, Pflegeexperte auf dem Institut für Sozialpolitik an der WU Wien gegenüber mosaik. „Die Pflege ist dabei nicht teurer geworden, insofern kann man es als Erfolg bezeichnen. Wenn man sich allerdings näher mit den Arbeitsbedingungen der Pflegerinnen beschäftigt, wird die Sache schon schwieriger“.

Gestopftes Angebotsloch

Um zu verstehen, was hinter dem Begriff „24-Stunden-Pflege“ steckt, hilft es, die historische Entwicklung dieses Sektors zu verstehen. Weil die Politik den Bedarf an Pflege lange vernachlässigt hatte, entwickelte sich Anfang der 90er Jahre eine Lösung für das Angebotsloch in der Pflege. Bis dahin gab es stationäre Einrichtungen, also Pflegeheime, und mobile Pflege, wo die zu Betreuenden stundenweise zuhause besucht wurden. Doch Menschen wurden immer älter und kränker, gleichzeitig stieg die Erwerbstätigkeit von Frauen und familiäre Betreuung war immer seltener eine Option. Der Fall des Eisernen Vorhangs ermöglichte Menschen mit drastisch niedrigeren Lohnvorstellungen, relativ einfach über die Grenze nach Österreich zu kommen. Vorerst nur in den Grenzregionen entwickelte sich also eine neue informelle Branche. Das Angebotsloch in der Pflege war vorerst gestopft.

Gesellschaftliche Akzeptanz ist historisch gewachsen

Mit zunehmender Zeit formalisierte sich dieses Pflegesystem und es entwickelten sich eigene Agenturen, die Frauen auch von weiter her nach Österreich holten. „Durch unsere Feldstudien ist uns zum Beispiel ein Fall bekannt, wo ein Mann seine Pflegerin heiratete und die beiden dann als Agentur aktiv wurden“, so Österle. Es entwickelte sich ein riesiger Schwarzmarkt, der zwar bekannt, aber lange Zeit von der Politik toleriert wurde. „Die gesellschaftliche Akzeptanz der 24-Stunden-Betreuung war schon vor der Legalisierung unglaublich groß“, erklärt Österle. „Wenn Familienangehörige nach einer Spitalsentlassung nicht wussten, wie sie Pflege organisieren sollten, verwiesen SpitalsmitarbeiterInnen auf die Möglichkeit der illegalen Personenbetreuung “.

Für billige Arbeit macht man schon mal eine Ausnahme

2006 erreichte der politische Druck, teils auch durch die Sozialversicherungsträger, die über entgangene Einzahlungen klagten, einen Höhepunkt. So wurde 2007 mit dem Gewerbe der Personenbetreuung eine rechtliche Möglichkeit gefunden, die osteuropäischen Frauen legal in Österreich arbeiten zu lassen. Wo es notwendig war, fand man einfach rechtliche Ausnahmen: Das Ausländerbeschäftigungsgesetz, nachdem Drittstaatsangehörige eigentlich eine Beschäftigungserlaubnis brauchen, um in Österreich arbeiten zu dürfen, setzte man für Personenbetreuerinnen schlicht außer Kraft. Um das Arbeitszeitrecht zu umgehen, wonach man nicht einfach zwei Wochen lang 24 Stunden durcharbeiten kann, wurde das Gewerbe der eigens erfundenen „Personenbetreuung“ als selbstständige Arbeit eingestuft.

Scheinselbstständigkeit entzieht Arbeiterinnen ihre Rechte

Viele Anwälte und Anwältinnen zweifeln aber an der Rechtmäßigkeit: Die Arbeitsbedingungen der Pflege orientieren sich vollständig an den Bedürfnissen der zu betreuenden Person, die Arbeit ist örtlich und zeitlich exakt gebunden und wird in starker wirtschaftlicher und persönlicher Abhängigkeit zum Arbeitgeber ausgeübt. Es handelt sich bei 24-Stunden-Pflege also eigentlich um unselbstständige Arbeit.

24-Stunden-Pflege: Ein System der institutionalisierten Ausbeutung

Frauen, die besonders viel arbeitsrechtlichen Schutz brauchen, verwehren wir also jegliche Absicherung. Das hat Folgen: Die Personenbetreuerinnen sind komplett dem guten Willen und den Launen der zu betreuenden Personen ausgesetzt. Dieses System fördert psychischen und sexuellen Missbrauch. In Erzählungen sprechen manche Betroffene von Sklaverei und Ausbeutung. Die Personenbetreuerinnen bezahlen in Österreich einen beträchtlichen Anteil ihres Einkommens für Sozialversicherungsbeiträge, erhalten aber keine Information über ihre Rechte. Daher besteht bei vielen der Eindruck, dass ihre Situation in den jeweiligen Herkunftsländern – vorwiegend Rumänien und Slowakei – ausgenutzt wird.

Lohn-Dumping auf Kosten der diplomierten Pflegekräfte

Zusätzlich übt dieses System der unregulierten Dumping-Preise Druck auf die Löhne der qualifizierten österreichischen Pflegekräfte aus. Die Personenbetreuerinnen dürfen zwar einige pflegerische und ärztliche Tätigkeiten ausüben, nehmen im Heimatland aber nur an einem Kurs teil, der mit dem professionellen Ausmaß der diplomierten Pflegekräfte nicht vergleichbar ist.

Verpasste Chance, um gute Jobs zu schaffen

Mit der Legalisierung 2006 wurde die Chance verpasst, in einem wachsenden Betätigungsfeld qualitätsvolle, attraktive Arbeitsplätze (für vorwiegend Frauen) zu schaffen. Stattdessen entstand ein Niedriglohnsegment. Für die Finanzierung gibt es Lösungen: In Deutschland setzt man beispielsweise auf eine verpflichtende Pflegeversicherung. Aber es lohnt sich nicht einmal, lange über Kosten nachzudenken: Laut einer Studie des NPO-Kompetenzzentrums an der WU Wien aus dem Jahr 2012 hat jeder Euro, der in Wien in die mobile Pflege investiert wurde, einen ökonomischen und gesellschaftlichen Nutzen von 3,70 Euro. Wir können es uns eigentlich also gar nicht leisten, nicht in die Pflege zu investieren. Und es gibt tatsächlich keinen Grund, warum irgendjemand 24 Stunden am Tag für zwei Wochen durcharbeiten muss. Alles andere sind Ausreden.

Teresa Havlicek ist freie Journalistin und Mitinitiatorin des Frauenvolksbegehrens 2.0, das sich unter anderem für bessere Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte so wie ein ausgebautes Betreuungsangebot einsetzt.

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